Von Zeitgeist und Abbrecherquoten

Von Zeitgeist und Abbrecherquoten

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Andreas Tangen ist Leiter des Goethe-Gymnasiums: Er spricht sich für das Abitur nach neun Jahren aus.

IBBENBÜREN. Das sogenannte Turbo-Abitur, das Abitur nach acht Jahren (G8), ist auch in Nordrhein-Westfalen wieder in der politischen Diskussion. Das Ergebnis einer Umfrage der Landeselterschaft der Gymnasien in NRW brachte den Stein Anfang September ins Rollen. Obwohl G8 in NRW vor Kurzem noch wie in Stein gemeißelt schien, werden jetzt in der politischen Diskussion immer mehr Stimmen für eine Rückkehr zu G9 laut. Der Rückhalt für die Schulzeitverkürzung bröckelt. Cornelia Ruholl sprach darüber mit dem Leiter des Goethe-Gymnasiums Ibbenbüren, Andreas Tangen.

Herr Tangen, warum ist G8 nach zwölf Jahren noch immer so umstritten?

Tangen: Dass es immer noch im Gespräch ist, zeigt, wie tief die Abneigung gegen G8 sitzt. Wir haben den Doppeljahrgang gehabt und beide Jahrgänge haben im Abitur gleich gut abgeschnitten. Seither haben vier weitere Jahrgänge das Abitur mit ähnlich guten oder sogar besseren Noten absolviert. Auch die Zahl der Abiturienten wird immer größer. Man könnte also sagen: Erfolg auf der ganzen Linie. Aber G8 ist eigentlich nie aus dem Gerede herausgekommen, weil die Leute gemerkt haben: Hier stimmt etwas nicht.

Was stimmt denn nicht?

Tangen: Zunächst einmal scheinen ja die Argumente für G8 zu sprechen. Die Schüler schaffen die Abiturprüfungen locker, die Noten werden tendenziell sogar besser. Offensichtlich können unsere Schüler und Schülerinnen das, was derzeit im Abitur verlangt wird, ganz gut leisten. Und ich sehe nicht, dass Schule in G8-Zeiten an Freiheitsberaubung grenzt, auch nicht, dass die Schüler unmenschlich unter Druck sind. Sie haben deutlich weniger Zeit zur freien Verfügung als früher, aber geknechtet sind sie nicht.

Und doch spricht aus Ihrer Sicht mehr gegen G8?


Tangen: Ich glaube, dass G9 besser ist für die jungen Menschen. Es geht um die Frage der Reife. Ein Jahr mehr Zeit macht da sehr viel aus. Ein Jahr mehr Zeit, um sich mit mathematischen, naturwissenschaftlichen, literarischen, philosophischen und politischen Fragestellungen auseinanderzusetzen, ermöglicht mehr Tiefe und schafft ein viel solideres Bildungsfundament, auf das das akademische Studium oder auch die Berufsausbildung gegründet werden kann. Die Verunsicherung würde geringer. Junge Leute brauchen einfach Zeit.

Was sprach denn dann überhaupt für G8?

Tangen: Die Diskussion um G8 ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich der Zeitgeist ändert. Einer der Ersten, der die Schulzeitverkürzung populär gemacht hat, war der frühere Bundespräsident Roman Herzog. Er hat 1997 seine berühmte „Ruck-Rede“ gehalten. Er ging davon aus, dass die lange Schulzeit in Deutschland für die Jugend im Grunde gestohlene Lebenszeit sei. Damals dachte man, man müsse in Deutschland moderner werden, Deutschland reformieren. Dazu gehörte, die Bildung knackiger, den Bildungsweg effektiver und kürzer zu machen, orientiert an dem, was nachher im Berufsleben auch verwendet werden kann. Aber wenn wir unserer Schülerschaft Bildung mitgeben wollen, dann kann es nicht nur darum gehen, was man im Beruf benötigt. Eine pädagogische Begründung für G8 hat es nie gegeben.

Und heute ist der Zeitgeist anders?

Tangen: Heute sieht man das umgekehrt. Heute sagt man, dass man den Kindern durch die Schulzeitverkürzung die Jugend stiehlt. Der Grundgedanke war ja: bei verlängerter Lebenszeit länger zu arbeiten, um die Rente zu sichern. Das scheint ja logisch. Aber die Kinder- und Jugendzeit wird nicht länger, nur weil wir immer älter werden. Was sich verlängert, ist der Zeitraum des Erwachsenseins. Mit welcher Logik nimmt man dann der Jugend das Jahr weg, warum nimmt man das dann nicht von den Erwachsenen?

Aber es ging doch auch um Angleichung an das europäische Ausland...


Tangen: Man hat schlichtweg ignoriert, dass die Mehrheit der Kinder in Europa vor dem Studium 13 Jahre lang zur Schule gingen. Auch ergibt es wenig Sinn, das Schulsystem isoliert von der gesamten Ausbildung zu sehen. In England machen ganz viele Schüler ein Gap-Year und sind dann 19, wenn sie anfangen zu studieren. Viele renommierte Colleges erwarten das von ihren Studenten.

So ein Zwischen-Jahr, zum Beispiel mit einem Auslandsaufenthalt machen viele inzwischen auch bei uns...

Tangen: Das Problem bei G8 ist, dass viele sich nach dem Abitur noch zu jung fürs Studium fühlen. So machen sie erst ein Jahr etwas anderes, aber längst nicht alle. Wir haben Studienabbrecherquoten wie noch nie. Im vorletzten Jahr im Bachelorstudium über 35 Prozent, in den als schwierig geltenden Fächern sogar über 40 Prozent. Dazu kommen noch zahlreiche Abbrüche beim Masterstudium. Und hinter ganz vielen dieser Abbrüche und Wechsel steht eine persönliche Krisenerfahrung.

Und das liegt an G8?

Tangen: Es gibt natürlich keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass ein Zusammenhang mit G8 besteht. Aber ich sehe das so. Zum einen sind sie zu jung und zum anderen glaube ich, dass so manches Mal die guten Noten zu einer falschen Selbsteinschätzung führen.

Den richtigen Studiengang für sich zu finden, ist ja angesichts vieler Optionen heute auch schwer, oder?

Tangen: Ganz vielen fällt es schwer, sich zu entscheiden. Das ist auch kein Wunder. Es gibt in Deutschland unglaublich viele Studiengänge; es sind mehr als 13000. Das ist mit früher gar nicht zu vergleichen. Schauen Sie sich doch nur einmal den Bereich Wirtschaft an den Universitäten an. Früher studierte man VWL oder BWL. Heute gibt es unzählige unterschiedliche Wirtschaftsstudiengänge. Für die jungen Leute ist das belastend.

Das klingt, als könne man allein für die Orientierung ein Jahr länger gut gebrauchen.


Tangen: Es gab vor einiger Zeit einen Spiegel-Artikel, der das thematisierte. Da war zu lesen, dass die teuren Internate das als Markt entdecken. Die bieten ein halbes Jahr oder ein Jahr an, in dem sich die Schüler nur damit befassen, auszuloten, was sie mal machen wollen. Die Unsicherheit der jungen Leute war das Thema. Die sind ja nicht dümmer als wir früher. Eigentlich sind sie sogar ernsthafter und lernbereiter. Die Motivation der heutigen Schüler finde ich gut.

Können Sie sich für NRW eine Rolle rückwärts vorstellen?

Tangen: Die einzige etablierte Partei, die es zum Thema macht, ist bisher die FDP. Und auch die sind ja noch sehr vage in dem, was sie wollen. Aber ich habe auch bei der CDU jetzt gehört, dass das ein Wahlkampfthema werden könnte und in der SPD beginnt die Diskussion jetzt intensiver zu werden. Das wird noch richtig spannend.

Würden Sie wollen, dass es den Schulen freigestellt wird, ob sie G8 oder G9 machen?


Tangen: Ich würde das nicht wollen. Wir haben sowieso das Problem der Uneinheitlichkeit des Bildungssystems. Warum sollten wir noch mehr Uneinheitlichkeit schaffen? Warum soll denn auch eine Schule über bessere Kriterien verfügen, als ein Ministerium, das über einen Riesenapparat verfügt. Wir haben Politiker gewählt, damit sie Entscheidungen treffen und sich nicht vor diesen drücken. Außerdem würde die Wahlfreiheit der Regierung die Möglichkeit geben, die Verantwortung für die notwendigen Veränderungen der einzelnen Schule aufzubürden; das kann es doch nicht sein. Und ein einfaches Zurück kann es ja auch nicht geben. Wir können nicht einfach da weitermachen, wo wir vor elf Jahren aufgehört haben.

Warum nicht?


Tangen: Wir arbeiten heute mit dem Begriff der Kompetenzorientierung. Es geht weniger um Wissen, als um Kompetenzen. Ich bin überzeugt, dass Kompetenz nicht an beliebigen Inhalten und nicht an einer beliebigen Menge von Inhalten erworben werden kann. Gerade Gemeinschaft braucht so etwas wie einen gemeinsamen Kanon von Inhalten.

Einen solchen Kanon zu definieren, wäre das nächste Problem, oder?

Tangen: Es ist immer umstritten, was in so einen Kanon gehört, aber dass man sich damit auseinandersetzt, halte ich für unvermeidlich. Und es ist wichtig, zu wissen, dass man so etwas wie Gemeinsamkeit haben muss. Wir reden gerade viel über gemeinsame Werte, die es zu verteidigen gilt. Aber die entstehen doch auch durch gemeinsame Bildung. Durch ein neugestaltetes G9 hätten wir die große Chance, dass sich unsere Schülerinnen und Schüler eine breitere und tiefere Bildung erwerben.